Schweigen. Kein Gesang im Gottesdienst

17.05.2021

Vom Singen und Schweigen.
Neue Lieder: Wie Luftblasen vom Grund des Ozeans.

Neue Lieder. Wie Luftblasen vom Grund des Ozeans

"Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder", heißt es in Psalm 98.

Am Sonntag Kantate feiern wir, dass sich unsere Seelen aufschwingen und ihr Lied singen von der Größe uns Schönheit der Wunder, die Gott an uns vollbringt: "Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön" lässt darum Paul Gerhard sein berühmtes Lied beginnen.

Doch, welch ein Dilemma: Am Sonntag Kantate feiern wir unseren Gesang und das Singen unserer Seelen, ... und dürfen nicht singen.

Ich möchte darum eine besondere Geschichte erzählen vom Singen von Lobgesängen, die zugleich eine Geschichte vom Schweigen ist. Vom Singen und vom Nichtsingen von Liedern.

Der Religionspädagoge Hubertus Halbfas erzählt diese Geschichte in seiner Gebetsschule "Der Sprung in den Brunnen". Darin erzählt Majuaq, eine alte Frau über ihr Leben als Inuit, sie erzählt über die Geschichte ihres Stammes und über die Gesänge zum alljährlichen Fest der Wale.

"XXX Text aus urheberrechtlichen Gründen nur als Nacherzählung im Video XXX“

Ich komme mir manchmal vor, wie die Menschen, von denen Majuaq erzählt.

Die Menschen der Inuit-Gemeinschaft sitzen zusammen und singen nicht. Sie sitzen in Stille. Die Lichter sind gelöscht und alle schweigen.

Aber es ist nicht bloß Schweigen, es ist ein Warten auf etwas, was das Schweigen beenden wird. Die Inuit warten auf Lieder, Dankeslieder für die Wale, denen sie alles verdanken, was sie zum Leben brauchen. Diese Lieder entstehen in ihnen, so wie Luftblasen auf dem Boden des Ozeans.

Ein fantastisches Bild. ... Man kann nichts aktiv daran bewirken. Die Luftblasen entstehen einfach. Und ich weiß nicht wo. Irgendwie steigen sie auf, winzig im riesigen Ozean, und sie drängen zur Oberfläche. Die Lieder entstehen in uns, tief innen, ... wir wissen nicht wo, wie wissen nicht wann und wie, ... und plötzlich steigen sie an die Oberfläche. Um sie zu bemerken ist es besser, im Schweigen zu sein, um nicht abgelenkt zu sein, sondern aufmerksam zu bemerken, ... jetzt steigen die Luftblasen vom Grund des Ozeans empor.

Ich bin davon überzeugt, dass die Eindrücke, die wir in unserem Lebensammeln, einen Ausdruck suchen, dass sie nicht einfach nur in uns ruhen wollen. Denn so entsteht Kunst. Wir erleben etwas, das Ausdruck sucht: Schönheit, Glück, aber auch Trauer, Ungerechtigkeit und Dinge, die wir nicht verstehen ... so vieles, ... und wir teilen es mit anderen Menschen, weil wir es nicht für uns allein behalten wollen, weil wir es vor uns ausbreiten möchten, um es anzuschauen, zu verstehen, ... wir wollen uns mitteilen. Wir teilen uns mit und es entsteht Kunst. So entstehen Lieder, weil die Seele ihre Fröhlichkeit nach außen bringen will, weil wir unsere Traurigkeit ausdrücken wollen, weil wir darum ringen, zu sagen, was sich so einfach nicht sagen lässt. So entstehen Gedichte und Romane, so entstehen Filme, Opern, Theaterstücke, ... und ... unsere Gebete zu Gott. In uns steigt auf, wie Luftblasen vom Grund des Ozeans, das, was wir Gott sagen und zeigen möchten. Unser Dank, unsere Bitte, unsere Klage, der Ausdruck unserer Hoffnung, der Ausdruck unserer Sehnsucht. Unsere Gebete.

Ich komme mir manchmal vor, wie die Menschen, von denen die Inuit-Frauerzählt.

Seit mehr als einem Jahr geschehen Dinge, die von uns einiges abverlangen. Wir schränken uns ein, vieles ist nicht möglich, wir verzichten und wir singen nicht in den Gottesdiensten. Manchmal kommt mir das vor, wie die Szene, von der die Inuit-Frau berichtet: Das Licht aus, alle schweigen und warten. ...

Alle schweigen und warten. Und warten? Nicht nur. Was Wort, das die Inuit für dieses besondere Geschehen haben ist Quarrtsiluni. Und Quarrtsiluni ist nicht nur Schweigen, sondern ist ein Warten in der Stille auf etwas, das in uns aufbrechen wird.

Ich komme mir manchmal vor, wie die Menschen, von denen Majuaq erzählt.

Ja, ich warte, dass das Schweigen, in dem wir sitzen, aufgebrochen wird, durch neue Gesänge, die wie Luftblasen vom Grund des Ozeans aufsteigen werden. Die neuen Gesänge werden dann erzählen, von dem, was ich erlebt habe in diesem Jahr es Schweigens. Sie bringen zum Ausdruck, was sich tief in mich eingedrückt hat.

Ein Quarrtsiluni, das ist der Moment, in dem etwas aus der Stille aufbricht. So wie der Ton der Musik aus der Stille geboren wird. Unsere Stille wird Singen werden.

Dann ist das Nicht-singen-Dürfen gar nicht so schlimm, sondern es liegt im Schweigen und Warten, im Augenblick des Quarrtsiluni, eine besondere Hoffnung. Wir singen jetzt nicht, aber wir warten auf das Aufbrechen neuer Lieder.

Wir wollen also aufmerksam sein auf die Luftblasen, die auf dem Grund unserer Seelen entstehen und emporsteigen werden. Es wir großartig werden, neue Lieder, neue Gebete, neuer Ausdruck, neuer Dank, aber auch neue Klage, neue Sehnsucht, ...

So kann ich dieses Jahr den Sonntag Kantate feiern. Ich freue mich auf die Schönheit der Gesänge, die noch nicht gesungen sind, die in unser Stille geboren werden.

Amen.